Herzworte

Barfuß

2. September 2019

Ich bin barfuß. Meine kleine Schwester sagt, sie und ich, wir würden unsichtbare Socken tragen. Wenn es kalt ist und unsere Eltern das für keine gute Idee halten, behauptet sie, es seien unsichtbare Wollsocken. Meine nackten Füße laufen gern über den Teppich im Kinderzimmer. Obwohl der ziemlich kratzig ist. Dunkelrote Teppichfliesen liegen dort. In den ersten Jahren, in denen wir im neuen Haus mit dem großen Kinderzimmer mit den dunkelroten Teppichfliesen wohnen, spielt sich unser Leben hauptsächlich auf dem Fußboden ab. Im Sommer berühren nicht nur unsere Füße den kratzigen Teppich, sondern auch unsere nackten Knie: Wenn wir vor dem Playmobilhaus hocken, das unser Vater uns aus Holz selbstgebaut hat. Meiner Schwester und mir, uns gehört jeweils eine Hausseite. Eine Doppelhaushälfte, so nennen wir das. Genauso wie wir das aus der Neubausiedlung, eine Straße weit weg, kennen. Da wohnen alle in Doppelhaushälften. Wir spielen so lang und so viel Playmobil, bis unsere kleinen Knie beinah so dunkelrot sind wie der Teppichfliesenboden. Er ist kratzig, aber vertraut. Unser ganzes Kinderzimmer ist gewissermaßen kratzig. Aber das stört uns nicht. Nicht mal, wenn auch unsere Ellenbogen dunkelrot werden, weil wir uns beim Bilderbuchblättern auf die Bäuche legen und uns mit den Ellenbogen abstützen. Es stört uns nicht. Wir kennen es nicht anders. Unsere Kindheit kratzt. Und wir spielen und blättern so lange und so viel, dass wir wunde Knie und Ellenbogen kriegen.
Wir kennen es nicht anders.
Es ist wunderbar.

Worte und Bild: Hanna Buiting | Dieser Text ist ein Fragment und darf genau das sein. Ins Blaue hineingeschrieben nach einer Schreibanregung von Doris Dörrie in ihrem Buch „Leben – Schreiben – Atmen. Eine Einladung zum Schreiben“, Diogenes Verlag, 2019, das ich sehr empfehle.