Lichtworte

Hoffnungsmärchen

17. Dezember 2014

Das Leben in der kleinen Stadt hatte sich eingependelt, wie das Pendel einer alten Standuhr.

Manchen mochte es trostlos erscheinen. Andere hielten es einfach für ganz gewöhnlich. Jeder kannte jeden– von der Wiege bis zum Leichenschmaus. Ein Tag folgte dem nächsten, ohne dass je eine Besonderheit passierte.

An einem ganz gewöhnlichen Morgen hatte man jedoch plötzlich die Türglocke über den Marktplatz schallen gehört. Die Türglocke des Ladenlokals, das seit Jahr und Tag leer gestanden hatte und von dem keiner gedacht hatte, dass sich je wieder jemand darin heimisch fühlen könnte. Getuschelt wurde. Gemunkelt. Was hatte es mit diesem längst vergessenen Glockenton auf sich? Was mit der blondgelockten, jungen Frau, die auf roten Stöckelschuhen über den Marktplatz klapperte, fröhlich grüßend, aber zielstrebig immer wieder im Ladenlokal verschwindend?

Die Kinder drückten sich an der staubbedeckten Fensterscheibe die Nasen platt. Die junge Frau winkten ihnen zu, sagte aber immer wieder freundlich: „Ich öffne erst nächste Woche. Ein wenig müsst ihr euch noch gedulden“, und hängte eine lange Stoffbahn vor die Scheibe, so dass jeder neugierige Blick ausgeschlossen war.

Die Leute der kleinen Stadt runzelten die Stirn. Eine Geheimniskrämerin war sie also auch noch, die Neue. Doch eines Tages wurde die Ladentür auf einmal geöffnet. Beschwingt stellte die junge Frau ein Schild neben die Tür. „Komm rein. Du bist willkommen!“, stand darauf und das sagte sie auch jedem, der vorbeilief. Immer wieder lud sie die Leute ein, hereinzukommen und sich ihren Laden anzusehen. Viele senkten jedoch den Blick, hasteten vorüber, murmelten Entschuldigungen und brummten etwas von unaufschiebbaren Verpflichtungen und viel zu viel Arbeit.

Und so waren es die Kinder, die zuerst ihren Weg in den Laden fanden. Staunend blieben sie vor den großen Regalwänden stehen, in denen hundert und aberhundert Gläser ihren Platz hatten. Gefüllt waren sie mit Gegenständen scheinbar jeder denkbaren Farbe. Weinrote Luftballons. Zitronenfaltergelbe Seidenstümpfe. Rosmaringrüne Gänsefedern. Solch einen Laden, hatten die Kinder noch nie gesehen. „Was verkaufst Du denn?“, fragte eins der besonders Naseweißen. Und ein anderes wollte wissen: „Bist Du Tante Emma?“, denn einen Laden wie diesen kannte es bisher nur aus Erzählungen der Großmutter. „Ich verkaufe Hoffnung“, sagte die junge Frau strahlend und reichte den Kindern eins der Gläser, das mit himmelblauen Kaugummikugeln gefüllt war. „Wollt ihr probieren?“ Erst zögerten sie, aber dann griffen viele kleine Hände in das Glas. „Und was schmeckt ihr?“, wollte die Frau von den Kindern wissen. Nach kurzem Überlegen sagte plötzlich eins von ihnen: „Ich finde, das schmeckt wie Sonne, wenn es ganz lange geregnet hat.“ „Mmhhh! Das schmeckt nach mehr Taschengeld“, rief ein anderes und die übrigen Kinder lachten. Und dann flüsterte ein kleines Mädchen leise: „Das schmeckt irgendwie wie Abendbrot mit Mama und Papa. Dabei wohnt Papa eigentlich gar nicht mehr bei uns.“

Jedes Kind erzählte von einer anderen Geschmacksrichtung. Doch alle waren sich einig, dass dies die leckersten Kaugummis waren, die sie je gegessen hatten.

Mit der Zeit trauten sich auch immer mehr Erwachsene in den Laden der jungen Frau. Angelockt von den schwärmenden Erzählungen ihrer Kinder wollten nun auch sie dem Geheimnis des Ladens auf den Grund gehen. Willkommen waren sie ja alle.

Manche verbrachten eine ganze Stunde in dem Laden, ließen sich von der jungen Frau zu einer haselnussbraunen Tasse Kakao einladen, probierten Gummistiefel in Lavendellila und verließen schließlich allesamt leichtfüßig und begleitet von dem zarten Läuten der Ladenglocke das Geschäft wieder.

Wenn sie jemand fragte, was es denn nun so Besonderes in dem Laden zu kaufen gäbe, fiel es ihnen schwer, in Worte zu fassen, was sie erworben hatten. Es war eher ein Gefühl als eine Ware.

Leichter und hoffnungsfroher fühlten sie sich. „Und ist es sehr teuer?“, wollten manche wissen. „Eigentlich nicht. Du bezahlst mit einer Geschichte. Aus deinem Leben. Am besten eine, die du am liebsten vergessen möchtest, weil sie dir das Herz so schwer macht.“

Nach ziemlich genau einem Jahr jedoch blieb die Tür des Ladens auf einmal geschlossen. Die Leute der kleinen Stadt standen erstaunt davor. Manche waren beinah jeden Tag gekommen und hatten sich etwas aus den bunten Gläsern ausgesucht. Immer im Tausch gegen eine Geschichte. Und über die kleine Stadt hatte sich eine unbekannte Fröhlichkeit gelegt. Fröhlichkeit, die ansteckend war und nach und nach Sorgen und Kummer aus den Menschen trieb.

Doch nun war der Laden leer. Die Regale ausgeräumt und auch das Schild, das immer neben der Tür gestanden hatte, war verschwunden. Nur ein kleiner Zettel hing an der Scheibe: „Verliert die Hoffnung nicht. Teilt sie.“

Worte: Hanna Buiting | Bild: Charlotte Viefhaus|