Weltworte

Stellvertreter

11. September 2018

Es gibt Tage, die geben unserem Leben einen besonderen Rhythmus. Sie unterteilen unser Jahr in Alltage, Feiertage und Gedenktage. Tage, die gegen das Vergessen sind und für die Erinnerung.  Auch, wenn auf Sonne im Sommer und Schnee im Winter vielleicht kein Verlass mehr ist, so bleiben doch diese Erinnerungstage verlässlich. Kein Jahr ohne Karfreitag, ohne Tag der Deutschen Einheit, ohne Weihnachtsfeiertage.

Der 11.September ist in Deutschland kein eingetragener Gedenktag. Das Leben bewegt sich an diesem Tag in seinem gewohnten Tempo, es gibt kein schulfrei und schon gar keine Geschenke. Und doch stocke ich jedes Jahr aufs Neue, wenn ich in meinem Kalender an diesem Tag einen Termin notiere und das Datum bewusst wahrnehme. Denn der 11. September ist mehr als ein Datum. Ein ganz feststehender Begriff, der mich und viele andere Menschen weltweit zurückkatapultiert in das Jahr 2001. Gebannt saß ich damals vor dem Fernseher. Als Neunjährige, die nicht glauben konnte, zu was Menschen fähig sein können. Die immer wieder zusah, wie Männer und Frauen aus den Fenstern der Zwillingstürme in den Tod sprangen, während Enya „Only Time“ sang. Hätten wir am nächsten Tag nicht mit unserer Klassenlehrerin über die Terroranschläge von 9/11 gesprochen, vielleicht wären uns Kindern der Generation Y, die beiden Flugzeuge, die in die Twintowers flogen, wie eine beeindruckende Inszenierung in einem Actionfilm vorgekommen. Ein Actionfilm, in dem, wenn die Szene abgedreht ist, alle Schauspieler wieder aufstehen, sich den Staub von den Kleidern klopfen und weiterleben wie zuvor. Doch die Geschehnisse des 11.Septembers waren so präsent auf allen Kanälen, in allen Gesprächen, auf allen Titelseiten, dass auch wir Kinder begriffen, dass in den USA etwas passiert war, das unser Leben nachhaltig verändern würde.

Es fing an mit den dunkelbärtigen Männern, die wir auf einmal misstrauisch beäugten, wenn sie uns in der U-Bahn begegneten. Längst war der Gedanke in uns gesät, dass wir vielleicht überall und ständig umgeben waren von Terroristen.

Es ging weiter mit einer Kriegserklärung an den Irak. Präsident Bush schwor Rache. Wir Kinder wussten nicht so recht, wie wir das finden sollten. Hatte man uns nicht gelehrt, dass Krieg niemals die richtige Antwort war?

Es hörte nie auf, dieses Gefühl, das zu einer Gewissheit wurde, dass es nicht alle Menschen gut miteinander meinen. Wir wurden groß und dabei medial immer wieder konfrontiert mit Terror, Kriegen und Tod. Überall auf der Welt. Präsent auf allen Kanälen, in allen Gesprächen, auf allen Titelseiten. Und doch wurde unsere Betroffenheit schleichend ein wenig kleiner. Vielleicht, weil kein Tag vergeht, an dem wir nicht von Bombenangriffen auf Unschuldige erfahren, von sterbenden Flüchtlingen auf dem Mittelmeer, von Massenvergewaltigungen und Erschießungen. Vielleicht, weil wir geübt haben, all dieses unfassbare Leid und die Angst, selbst zum Opfer zu werden, nicht mehr so leicht an uns heranzulassen. Weil wir sonst womöglich daran zu Grunde gehen würden. Und doch gibt es immer wieder Tage, da hilft kein inneres Abschotten und kein Wegsehen und unsere Herzen tragen Schwarz. Und eigentlich ist das gut so, wichtig und richtig. Es lässt uns menschlich bleiben.

Heute, am 11.September, halte ich inne. Denn er ist für mich ein Stellvertretertag.  Ich erinnere mich. An 9/11, an London, an Syrien, an Paris, an Jerusalem, an Istanbul und Barcelona und all die vielen anderen Orte und Tage, an denen Menschen ihr Leben verloren, auf unmenschliche Weise.  Ich verneige mich vor allen Opfern und Angehörigen. Ich bete für die Entscheidungsträger dieser Welt und für die Menschen, die an irgendeiner Weggabelung ihres Lebens zu Mördern wurden. Und auch für deren Familien und Freunde, die nicht fassen können, zu was jemand fähig ist, den man doch eigentlich zu kennen glaubte. Ich bete und bitte immer wieder für Frieden. Für Einsicht, für Gerechtigkeit, für Liebe.  Dazu brauche ich keine Musik von Enya, keine Bilder in Zeitlupe, keine Schlagzeile auf dem Titelblatt. Der 11.September ist mehr als ein Datum. Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis. Stellvertretend für alle Toten davor und danach.

 

Worte: Hanna Buiting | Bild: Charlotte Cadenbach | Dieser Text erschien zuerst als Kolumne auf evangelisch.de