Menschworte

Treffen sich Zwei

4. Mai 2015

„Sie trinken Kaffee? Ich hätte eher auf Kräutertee getippt. Anis, Kümmel, Fenchel oder sowas“, Nils lachte und reichte Lena eine dampfende Tasse Kaffee.
„Das gleiche hatte ich von Ihnen erwartet. Etwas, das Körper und Seele in die richtige Balance bringt. Sowas ist doch wichtig hier, oder?“
„Sie haben wohl gar keine Vorurteile?“ Nils‘ Gesicht verzog sich zu einem Schmunzeln.
„Sie haben doch mit dem Kräutertee angefangen. Als ob ich etwas bräuchte, um den Milchfluss anzuregen. In meinem Job geht es nicht um mich.“
„In meinem auch nicht. Wobei“, Nils zögerte, „eigentlich tut es das doch. Ich wäre jedenfalls der Falsche für den Job, wenn ich nicht auch mal über mich nachdenken würde.“

Lenas Blick fiel auf eine kleine Tonfigur auf der Fensterbank: ein angedeuteter Engel, die Flügel eng um den Körper geschlungen. Sie war überrascht, wie schön dieser Ort war. Mit Wänden in Pastelltönen und geschmackvollen Möbeln. Einladend. Ein bisschen wie unser Geburtshaus, dachte Lena. Dort fühlte man sich auch immer gleich willkommen.

„Warum sind Sie hier?“, fragte Nils.
Lena überlegte einen Augenblick.“Ich fürchte, Sie sind mein Plan B“, sagte sie dann und lächelte ein wenig schief. „Beerdigung statt Baby. Ich bin vom Aussterben bedroht.“
Nils hob erstaunt die Augenbrauen. Warum drückte die junge Frau sich so umständlich aus? Vom Aussterben bedroht? Gut, es gab viele Möglichkeiten, den Tod zu umschreiben. Aber so?

Lenas Anfrage war per Mail gekommen. Ob sie vorbeikommen dürfe, hatte sie gefragt. Für ein Gespräch. Nils hatte das nicht für ungewöhnlich gehalten. Es kam häufig vor, dass ihm Menschen schrieben und um einen Termin baten. Häufig waren es Angehörige, die nach einem Platz für einen geliebten Menschen suchten. Er hatte erwartet, dass auch Lena so eine Angehörige war. Nur wenige ergriffen für sich selbst die Initiative, um ein letztes Zuhause zu bitten. Dafür waren die meisten schon zu schwach.
Unter Lenas Mail hatte sich eine Signatur befunden. Ihr Name stand dort, ihre Adresse und der Zusatz „Hebamme“.

„Ich muss über eine Alternative zu meinem jetzigen Job nachdenken“, erklärte Lena. „Für uns freiberufliche Hebammen gibt es kaum eine Perspektive, wenn sich in der Politik nicht etwas verändert.“ Nils nickte, er hatte von den hohen Versicherungskosten für Hebammen gehört. Zum Glück war für ihn und sein Frau die Familienplanung bereits abgeschlossen.

„Wissen Sie, ich liebe meinen Beruf. Aber unter den gegebenen Umständen, kann ich ihn nicht weiter ausüben“, fuhr Lena fort.
„Und wie kommen Sie dann ausgerechnet auf ein Hospiz? Unterschiedlicher könnten unsere Arbeitsbereiche ja wohl kaum sein“, Nils trank einen Schluck Kaffee.
„Ich habe lange drüber nachgedacht, was ich für Möglichkeiten habe. Und da ist mir aufgefallen, dass uns sehr wohl etwas verbindet.“
„So?“
„Ja, wir beide begegnen Menschen in Extremsituationen ihres Lebens. Ich am Anfang, Sie am Ende.“
Der Hospizleiter nickte. „Dabei liegen Leben und Tod oft viel näher beieinander, als man glaubt.“
Er dachte an Herrn Claussen, der im ersten Stock im Bett lag und durch das große Erkerfenster in den Himmel blicken konnte. Nils sprach oft mit ihm, hörte zu oder erzählte etwas, wenn Herr Claussen selbst zu schwach zum Reden war. Er war 96 Jahre alt. Als vor Kurzem die Meisen unter dem Dach Nachwuchs bekommen hatten, waren Tränen über sein Gesicht gelaufen. „Dafür lohnt es sich, noch ein bisschen zu leben“, hatte er mit leiser Stimme gesagt und einen Moment die Metastasen vergessen, die sich in seinem gesamten Körper eingenistet hatten und nicht mehr verschwinden würden.

„Ihr Job hat doch bestimmt gute Zukunftsaussichten, oder? Gestorben wird schließlich immer“, unterbrach Lena Nils‘ Gedanken.
„Das ganz sicher. Die Frage ist nur: wie?“

Lena nickte. Das war noch etwas, was sie beide gemeinsam hatten. Auch Geburten würde es weiter geben. Doch nicht jede würde mehr mit Erfahrung und Zeit begleitet werden können. Für die meisten Kinder würde in Zukunft vermutlich das grelle Krankenhauslicht das Licht der Welt sein, das sie als erstes erblicken würden.

„Ich finde, Sie sollten nicht aufgeben“, sagte Nils plötzlich und Lena hatte das Gefühl, er habe erraten, was sie in diesem Moment gedacht hatte. „Sie können gern ein paar Tage bei uns hospitieren. Dann sehen sie auch, dass es nicht immer Balancetee braucht, um die letzte Zeit eines Lebens schön zugestalten. Wahrscheinlich viel öfter guten Kaffee.“ Er zwinkerte ihr kurz zu. Dann wurde seine Stimme wieder ernster: „Ich denke, Sie sind noch nicht am Ende. So wichtig, wie den Menschen ein angemessener und würdevoller Tod ist, sollten ihnen auch eine Geburt sein. Das ist schließlich der Start ins Leben.“
´
Lena lächelte. Sie hatte das Gefühl, dass Nils eine ganze Menge Lebenserfahrung gesammelt hatte. Nicht nur in den paar Jahren, die er älter war als sie, sondern besonders durch seinen täglichen Umgang mit Menschen, die bereits am Ende ihres Lebens angekommen waren.

„Einverstanden“, sagte sie, „aber dann müssen Sie auch mal bei mir hospitieren. Dann sehen Sie auch, dass Hebammen eher selten selbst Stilltee trinken.“


Am 5.Mai ist Internationaler Hebammentag. Ein Tag, an dem Mütter und Väter (solche, die es schon sind und solche, die es noch werden wollen) und natürlich die Hebammen selbst ganz besonders für den Erhalt eines  Berufsstandes eintreten und auf eine politische Schieflage aufmerksam machen können. 

Damit der Start ins Leben ein bestmöglicher bleibt.

 


Worte: Hanna Buiting | Bild: Charlotte Viefhaus – www.charlottes-augenblicksammlung.blogspot.de

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