Großraumwagen. Fensterplatz, Nummer 63.
Die ältere Dame mit dem roten Pullover, der so weich aussieht, dass man gerne mal mit den Fingerspitzen darüber streichen möchte, lässt schon seit einer ganzen Weile die Stricknadeln nicht mehr klappern. Ihre Hände liegen ruhig in ihrem Schoß, ihre Augen sind geschlossen. Vielleicht träumt sie von Zuhause, vom Ende dieser Reise, vom Ankommen. Seit Berlin Hauptbahnhof sitzt sie neben mir.
Schlafen ist eine gute Idee, denke ich. Schlaf lässt die Zeit verfliegen.
Draußen ist es bereits dunkel, der Zug fährt durch die Nacht. Um mich herum ist es ruhig geworden. Der Rücken tut mir ein bisschen weh von der langen Fahrt. Manchmal bin ich süchtig nach Bewegung, vor allem, wenn es in mir drin so bewegt ist, wie jetzt. Bald bin ich wieder zuhause. Ich trage eine Menge Gepäck bei mir- auf dem Rücken und im Herzen.
Ich bin erschöpft und kann doch nicht ruhig werden, weil der Zug in all seiner Gleichmäßigkeit meinem Zielbahnhof entgegensteuert und sich in mir ein freudiges Gefühl der Erwartung, der Wiedersehensfreude, der Vertrautheit breit macht.
Als die Räder quietschend zum Stehen kommen, ich die Frau neben mir in ihren Träumen zurücklasse und sich die Türen öffnen, muss ich lächeln.
Ich spüre vertrauten Boden unter meinen Füßen, atme gewohnte Luft, sehe bekannte Bahnsteige, fühle meine Stadt.
Züge verlassen jeden Moment diesen Bahnhof, fahren weg. Weiter und weiter.
Nachhause vielleicht.
Ich bleibe hier, bin zufrieden. Alles ist so, wie ich es verlassen habe.
Reisen kann man nur, wenn man weiß, wo man hingehört, wenn man einen Ort hat, an den man gerne zurückkehrt.
Ein Ort, der eigenen Lebensgeschichte.
Ein Ort, an dem Menschen leben, die man liebt.
Ein Ort, an dem man erwartet wird, den man Heimat nennt.
Dieser Hauptbahnhof. Für mich: Startbahn in die Welt. Und immer wieder Ziel meiner Reise.
Worte: Hanna Buiting | Bild: Hannes Leitlein – hannesleitlein.de
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