Weltworte

Da sind wir wieder

4. April 2015

Bräuche gibt es überall in Deutschland und das ganze Jahr hindurch. Warum sind sie den Menschen so wichtig?

Alles ist wie jedes Jahr: Sie schmeißen sich in Schale, tragen Frack und Zylinder, satteln die Pferde und reiten los. Während die Frauen daheim raffinierte Muster auf Ostereier malen, reihen sich die Männer der Lausitz in den festlichen Prozessionszug ein. Es werden Kirchenlieder gesungen und Fahnen geschwenkt: Das sorbische Osterreiten hat Tradition, ist ein Brauch, der nicht wegzudenken ist aus Sachsen. Über Generationen weitergegeben von Vätern an Söhne. Jahr für Jahr in ewiger Wiederkehr: eine heilige Unterbrechung des Alltags.

Wie Perlen am roten Faden, der sich durchs Leben zieht, markieren Bräuche wichtige Ereignisse im Jahreslauf. Sie geben Halt, sind sinn- und gemeinschaftsstiftend. In Köln sind zu Karneval fast alle Menschen jeck. Über den Aprilscherz darf sich eigentlich keiner ernsthaft ärgern. Und wer im Advent weder Plätzchen bäckt noch Kerzen anzündet, wirkt ein bisschen kauzig. Bräuche entstehen aus einer Tradition heraus. Durch sie wird der Einzelne zum Teil einer Geschichte, die sich fortschreiben lässt. Bräuche machen aus einer Region eine Heimat. Wo sonst soll es so schön sein? So vertraut? „Bräuche haben immer auch eine soziale Komponente. Sie können integrieren, aber auch ausschließen“, sagt Ira Spieker, Kulturanthropologin und Bereichsleiterin am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden. Bräuche erzeugen ein Wir-Gefühl und machen es gleichzeitig schwer, sich ihnen zu entziehen. Wer sie nicht mitmacht, gehört nicht dazu. Jedenfalls nicht richtig.

Doch sie unterliegen auch einem Wandel. So haben sich im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Bräuche miteinander verwoben, und immer wieder sind neue entstanden. „Bräuche sind nicht unveränderlich. Im Gegenteil: Sie leben von der jeweiligen Ausgestaltung der Menschen“, sagt Ira Spieker. Längst sind Bräuche nicht mehr nur regional begrenzt. Das Münchner Oktoberfest gibt es heute auch in anderen Städten. Mit einer Krachledernen an den Beinen und einer Maß Bier in der Hand muss man nicht unbedingt in Bayern sein, um sich bayrisch zu fühlen. „Unsere heutige globale und von Mobilität bestimmte Welt ist sehr viel durchlässiger geworden, was unterschiedliche Bräuche angeht“, erklärt die Kulturanthropologin.

Dennoch gibt es manche Üblichkeiten, die man nur in bestimmten Teilen Deutschlands kennt. Bei Ortsunkundigen können sie daher auch mal für Verwirrung sorgen. Im Chemnitzer Verlag ist vor Kurzem das „Bilderbuch der Bräuche“ erschienen, das über sächsische Bräuche aufklärt. In großflächigen Fotografien und in leichtem Erzählstil geschrieben, werden die Traditionen vorgestellt und erläutert. Die Schifferfastnacht in Prossen, das Weinfest in Radebeul und das Backen der vogtländischen Zuckermännle haben ihren festen Platz im Jahreslauf, und so auch in dem Erzählband sächsischer Bräuche.

Aus gutem Grund werden darin auch die Ursprünge der unterschiedlichen Traditionen erläutert. Denn sie sind es, die häufig in Vergessenheit geraten sind. Was hat das Osterei mit Ostern zu tun und warum feiern wir Weihnachten eigentlich nicht im Sommer? „Gewohnheit, Sitte und Brauch sind stärker als die Wahrheit“, sagte schon der französische Philosoph Voltaire im 18. Jahrhundert. Entscheidender als der ursprüngliche Anlass für eine Feierlichkeit ist das Wiederholen vertrauter Handlungen. Bräuche geben dem Leben einen Rhythmus. Ob am christlichen Kirchenjahr orientiert oder an den Veränderungen der Jahreszeiten, die besonders für die Landwirtschaft eine Rolle spielen, sind es immer wieder bestimmte Bräuche, die ein Innehalten befördern. Ein bewusstes Nachdenken über das Leben im Allgemeinen und Ereignisse im Besonderen. So ist es ein Dankesfest wert, wenn die Ernte gut war, und eine erfolgreiche Weinlesesaison beschließt man am besten mit einem gemeinschaftlichen Umtrunk.

Bräuche sind für das Erinnern und gegen das Vergessen: Nichts schmeckt so sehr nach Kindheit wie ein frisch gebackener Hefezopf am Ostersonntag. Und nichts kann die Vergangenheit so gut wachrufen wie ein vertrauter Geschmack auf der Zunge. Aus diesem Grund spielen Bräuche auch heute eine ungetrübte Rolle. Sie befriedigen das menschliche Bedürfnis nach Beständigkeit und bieten eine Form der Orientierung. Zugleich sind Bräuche Ausdruck des Wunsches, dem Leben einen gewissen Glanz zu verleihen. In „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry antwortet der Fuchs auf die Frage des kleinen Prinzen, was ein fester Brauch sei: „Es ist das, was einen Tag vom anderen unterscheidet, eine Stunde von den anderen. Sonst wären die Tage alle gleich.“

Was in engem Zusammenhang mit Bräuchen steht, sind Rituale: Im Advent jeden Tag ein Türchen am Kalender öffnen. Einen Sonntag immer mit einer Tasse Kaffee im Bett beginnen. In jeder Kirche, die man besucht, eine Kerze anzünden. Für den Soziologen Émil Durkheim erzeugen Rituale eine Sakralität innerhalb einer Gemeinschaft. Das heißt, dass sie den Alltag mit der Würde des Heiligen ausstatten. Nach dieser Definition sind Kerzenanzünden und Kalendertüröffnen mehr als eine Spielerei, nämlich geradezu heilig. Besonders wenn Rituale in Gemeinschaft gepflegt werden, erhalten sie zusätzlich nicht selten eine volkstümliche Komponente und können sich zu einem Brauch entwickeln. Ein Brauch ist ein Ritual vieler.

Doch bei aller Heiligkeit sind und bleiben Bräuche menschengemacht. Ihre Bedeutung hängt davon ab, welche Bedeutung die Menschen ihnen beimessen. „Problematisch wird es nur, wenn Bräuche bewusst zweckentfremdet und instrumentalisiert werden“, sagt Spieker. So geschehen etwa im Nationalsozialismus. Bräuche wurden braun gefärbt. Um Hitler und Himmler in einer Linie mit germanischen Vorfahren sehen zu können, erlebten vermeintlich germanische Bräuche einen neuen Aufschwung. Feierlichkeiten zur Sommersonnenwende fanden ihren Platz im nationalsozialistischen Festtagskalender und wurden zum Bekenntnisakt für Vaterland und Führer.

Das sorbische Osterreiten jedoch ist ein fröhliches Volksfest, das auch Besucher aus umliegenden Regionen anzieht. Hier besteht eher die Gefahr, dass der Brauch zu einer reinen Touristenattraktion verkommt. Denn auch das ist ein Aspekt von Bräuchen: Sie fördern den Konsum, sind nicht frei von wirtschaftlichen Interessen. Ob Christbaum im Wohnzimmer, Rosen am Valentinstag oder Osterhasen an der Supermarktkasse: Bräuche gefallen auch dem Einzelhandel. So wird auch das bemalte Osterei auf dem Frühstückstisch zum Symbol der Erinnerung längst vergangener Zeiten, ist kulturelles Bindeglied und macht graue Tage bunt. Ob in der Lausitz oder anderswo. Hauptsache, wie jedes Jahr.

 

Worte: Hanna Buiting  | zuerst veröffentlicht am 04.04.2015 in der Sächsischen Zeitung (Dresden)

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