Menschworte

Heimkehr.

25. Juli 2014

Lange hatten sie auf diesen besonderen Moment gewartet. Alle beide. Georg stand am Bahnsteig und musste an die Vater-Sohn-Karikaturen denken, die früher einmal in der Zeitung abgedruckt wurden. Er stellte sich vor, die Welt würde auf einmal schwarz-weiß werden. Alle Farben würden verschwinden und alles würde ganz klar umrissen sein. Wie ein Negativ einer anderen Epoche der Fotografie.

Georg mochte Bahnhöfe. Orte von Anfang und Ende. Vorfreude und Abschiedsschmerz.
Wie oft hatte er hier gestanden. Früher, als sein Sohn nach München gezogen war. Zum Studieren. „Mach’s gut, Alter“, hatte dieser ihm dann oft zugeraunt und ihm erwachsen auf den Rücken geklopft, cool-distanziert. Und Georg hatte tapfer die Tränen herunter geschluckt. Männer weinen doch nicht. Er hatte zugesehen, wie sein kleiner Sohn, der viel zu schnell erwachsen geworden war, in den Zug stieg, sich noch einmal grinsend umdrehte und ihm zuwinkte, während sich die Türen schlossen und der Zug langsam losrollte. In eine andere Stadt, in ein anderes Leben. Dorthin, wo sein Sohn erwachsen war, keinen Papa brauchte, der ihm die Schuhe zuband oder ihn auf seinem Rücken reiten ließ. Viele Jahre war es so gewesen. Die Abstände, in denen sein Sohn in seine alte Heimatstadt zu Besuch gekommen war, waren größer geworden, genauso wie die Distanz zwischen den beiden.
Georg konnte nicht mehr sagen, wann es angefangen hatte, dass sie sich voneinander entfernten. So sehr, dass es am Ende beim Abschied nur noch ein flüchtiges Händeschütteln gegeben hatte. Weihnachten vor zwei Jahren war es dann passiert: ein furchtbarer Streit. Vorwürfe, Verletzungen, die sich in Georg verankert und eine tiefe Furche auf seine Stirn eingegraben hatten. Vater-Sohn. Schwarz-weiß, ein Relikt einer vergangenen Zeit. –Stille. Keine Anrufe mehr, keine Mails, keine Briefe.
Oft hatte sich Georg gefragt, wie es wäre, wenn seine Frau noch leben würde. Ob die Stille dann nicht so still gewesen wäre. Aber sie war nicht mehr da. Und Vater und Sohn, auf sich allein gestellt, schafften es nicht, die Entfernung zu überwinden. Man gewöhnt sich an alles, hatte Georg feststellen müssen und sein Sohn wurde zur bloßen Erinnerung einer glücklicheren Zeit.
Bis er sich ein Herz gefasst und endlich die Sätze, die ihm schon so lange auf dem Herzen lagen,zu Papier gebracht hatte. Auf weißem Bogen, in einem weißen Umschlag, mit seiner schmalen Handschrift. Adressiert an einen Mann, um die dreißig, der immer noch den gleichen Nachnamen trug, wie er.

Am Bahnsteig kam Bewegung auf. Menschen mit Koffern und Taschen hasteten die Rolltreppe herauf. Die Lautsprecheransage verkündete die Einfahrt des Zuges, auf den Georg wartete. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Bang war ihm vor diesem Moment, wenn sich die Türen des Zuges öffneten. Was würde ihn erwarten?
Und dann war es so weit. Der ICE aus München rollte in den Bahnhof ein, kam zischend zum Stehen und die Türen öffneten sich. Menschen strömten heraus. Ein Liebespaar nah bei Georg, fiel sich glücklich in die Arme. „Ich hab dich so vermisst“, hörte Georg den jungen Mann seiner Freundin zuflüstern. Sie umarmte ihn fester und Georg musste schlucken, denn da sah er ihn: einen Mann, um die dreißig, groß, schlank und dunkelhaarig. Mit Augen, die Georg so vertraut waren, hatte er sich doch vor langer Zeit in genau solche Augen verliebt.
Der Bahnsteig wurde schwarz-weiß, stand still, wie eine Fotografie. Und die beiden, Vater und Sohn, gingen aufeinander zu. Mit festen Schritten, festem Blick. Der jüngere von beiden stellte seinen Koffer neben sich und umarmte den Anderen. Fest. Ohne Distanz.
„Ich hab dich so vermisst“, flüsterte Georg mit erstickter Stimme und wischte die Tränen nicht weg.

 


Worte: Hanna Buiting | Bild: Hannes Leitlein – hannesleitlein.de

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