Auf ans Mehr!

Mehr Zeit

15. März 2017

Hanna:

Es wird der Tag kommen, da werden wir Zeitzeuginnen sein und gefragt werden: Wie war das damals?

Wo warst du, als die Alternative gewählt wurde? Welche Alternative wähltest du? Wo standest du, als Tausende vor der Frauenkirche aufmarschierten? Zu welchem Volk zähltest du dich? Was war dein liebstes Kleidungsstück? Das selbstgenähte von den Kindern aus Bangladesh oder das, was du dir mit Mühe selbst schneidertest?  Wieso lebtest du nicht vegan? Waren dir die zerschredderten Küken so egal? Wo warst du, als Tausende vor dem LAGeSo ausharrten? Wieso gabst du keine Deutschkurse? Du konntest doch Deutsch. Wieso warst du so leise? Hattest du nicht genug Gründe, deine Stimme zu erheben, zum lauten Protest?

Es wird der Tag kommen, da werden wir Zeitzeuginnen sein und gefragt werden: Wie war das damals? Und vielleicht werden wir dann nur leise und mit belegter Stimme antworten: Wir wollten so viel. Und so war das, was wir uns am meisten wünschten, mehr Zeit. Bloß mehr Zeit. Ein bisschen mehr Zeit.

Es wird der Tag kommen. Aber heute ist auch schon ein Tag. Und deswegen dreh ich die Sanduhr nun um und warte nicht mehr, bis das letzte Sandkörnchen ins Getriebe gefallen ist. Denn mehr Zeit als jetzt werden wir nicht kriegen.

 

Mara:

Wislawa Szymborska hat einmal geschrieben „Wir sind Kinder der Zeit, die Zeit ist politisch.“ Aber nicht das ist das erste, was mir in meinem Kopf begegnet, wenn ich an die Zeit denke, sondern es ist eine Standardfrage, ein Standardvorwurf. „Wo ist sie denn hin, meine Zeit?“ Morgens, beim Zurückdenken an gestern, die letzte Woche. Nachts, beim Zurückdenken an den Tag, den Abend. Wo ist sie hin?

Aber nein. Falsche Frage, besonders da, als wir uns für „mehr Zeit“ entschieden haben. Wislawa und wir politischen Kinder sollen mich begleiten, nicht nur durch diese Woche. Wie politisch, wie aufbegehrend, mitgestaltend im Kleinen, wie wütend – da wo notwendig – war sie?

„Doch welche Frage, Liebling, sage. Eine politische Frage“, fragt und antwortet der abgegriffene, vergilbte Gedichtband.

 

Worte: Mara Feßmann und Hanna Buiting | Bild: Mara Feßmann – http://www.marawandelbar.de

 

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