Lichtworte

Mut

22. Dezember 2013

Vor der großen Fensterscheibe des Cafés wurden die letzten Weihnachtseinkäufe erledigt und der alte Leierkastenmann spielte in einer Dauerschleife „Alle Jahre wieder.“
Marie rührte gedankenverloren in ihrer Cappuccinotasse, in der nur noch der Milchschaum zurückgeblieben war.
Sie hatte ihr Versprechen gehalten.

„Wenn Du mir noch eins versprechen könntest, Marie“, hatte ihre Großmutter geflüstert und Marie aus ihren klaren blauen Augen tief angesehen, „dann versprich mir, dass Du immer mutig bist, ganz egal was kommt.“
Das waren ihre letzten Worte gewesen. Und seitdem waren es genau diese Worte, die Marie im Kopf herum spukten. Immer mal wieder. Mutig sollte sie sein. Alle Tage nur mutig.
Ihre Großmutter war eine Verfechterin der Frauenrechte gewesen. Eine Kämpfernatur, die das Herz auf der Zunge trug und für die Mut ein Lebensgefühl zu sein schien.
Maries Großmutter war so, wie Marie gerne sein wollte. Und doch war ihr selbst oft mulmig zu Mute. Sie fühlte sich unsicher. Mit sich und ihrem Platz in der Welt. „Du kannst im Kleinen anfangen. Nur fang an“, auch das war einer der Sätze, die Maries Großmutter leidenschaftlich gerne wiederholt hatte. Mutig im Kleinen. Mutig im Großen.

Begonnen hatte Marie am Morgen der Beerdigung ihrer Großmutter. Sie war aufgestanden und hatte das schwarze Kleid, das schon für sie bereit hing, wieder zurück in den Schrank geräumt. Stattdessen hatte sie sich für eine rote Bluse entschieden, die irgendwie an Kirschmarmelade erinnerte und so auch an ihre Großmutter. Wie oft hatten sie gemeinsam im Garten Kirschen gepflückt und daraus hinterher köstliche Marmelade gekocht.
In der Kirche war sie aufgefallen. Ein roter Fleck inmitten einer schwarzen Menschenmenge. Ihrer Großmutter hätte das gefallen, da war sie sicher.

Mutig war Marie auch, als sie mit zitternden Händen bei ihrem mürrischen Hausmeister klingelte. Mit einem selbstgebackenen Kuchen in der Hand. Einfach so. Über sein Gesicht war ein Lächeln gehuscht, von dem er selbst vermutlich gar nicht mehr gewusst hatte, dass er es noch beherrschte.

Mut war auch ihr Antrieb, als sie es wagte, den großen Umschlag mit ihrer Bewerbung für die Schauspielschule durch den Briefkastenschlitz zu schieben.

Und mutig war sie gewesen, als sie ihren Namen nicht auf die Liste mit den vielen Unterschriften setzte, die für den Abriss der kleinen Kirche am Marktplatz gesammelt wurden.

Marie war auch mutig, als keiner da war, der Frau Hansen aus der ersten Etage ins Krankenhaus begleiten konnte, als die Wehen einsetzten.
Mutig war sie, als sie so die erste wurde, die dieses neue Menschenkind in den Armen halten durfte. Ohne Angst, sie könnte es fallen lassen.

Und sie war mutig, als sie sich entschied, selbst keine Kinder zu bekommen. Ganz anders als all ihre Freundinnen.

Mutig war sie, als sie Ben gesagt hatte, dass sie den grauen Kasten, den er sein Traumhaus nannte, nicht kaufen wollte. Und mutig fühlte sie sich, als sie nach der Trennung alleine ins Kino ging und dort Lars traf. Ihren Lars.

Und mutig war sie jetzt.
Viele Jahre nach dem Tod ihrer Großmutter, in diesem Café, in dem nun auch der letzte Rest Milchschaum weggelöffelt war und Marie alleine darauf wartete, dass ihre Ärztin anrief, um ihr zu sagen, ob der Brustkrebs zurückgekehrt sei oder nicht.

Mut erfüllte ihr Herz, als ihr klar wurde, ganz egal, wie die Diagnose lauten würde: Sie würde „Trotzdem!“ sagen und mutig bleiben.
Das hatte sie ihrer Großmutter schließlich versprochen. Und sich selbst auch.

 


Worte: Hanna Buiting | Bild: Andreas Buiting

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