Schwung holen, Salto machen, abtreten: Die Schreibschrift verschwindet vom Lehrplan. Ein Plädoyer für ihren Erhalt.
Meine Oma kann noch Sütterlin. In ihrem Bücherregal findet sich eine etwas vergilbte Ausgabe des Kinderklassikers „Heidi“ von Johanna Spyri – geschrieben in dieser hundert Jahre alten Schrift. Was meine Oma kann, kann ich noch lange nicht. Obwohl des Lesens mächtig, bleibt mir die Geschichte von Heidi hinter den seltsam geschwungenen Buchstaben verborgen. Ich kenne sie nur in der Zeichentrickfassung. Zwischen meiner Oma und mir liegen 62 Jahre. In der Schrift wird das besonders deutlich. Sütterlin hat etwas Kunstvolles. Ein seltenes Kulturgut, das heute kaum noch jemand beherrscht. Und während ich mit dem Zeigefinger über die Häkchen und Schwünge dieser Bilderbuchschrift streiche, frage ich mich, ob meine Enkel meine Handschrift wohl noch entziffern können?
Denn seit längerer Zeit wird darüber diskutiert, die Schreibschrift vom Lehrplan zu streichen. Die Gegenwart ist gegen das Warten. Und so erscheint schnelles Notieren erst einmal sinnvoller als schönes Schreiben. Auf den Inhalt kommt es an. Find ich auch. Aber muss man dafür auf Ästhetik und motorische Raffinessen verzichten? „Nein!“, sagt Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth. Das Verbinden von Buchstaben wirke sich positiv auf die Entwicklung des Gehirns aus, wie man aus der Forschung wisse. Auch die SPD in Sachsen will weiterhin die Schulausgangsschrift aus DDR-Zeiten unterrichtet sehen. Eine abgespeckte Version der Schreibschrift zwar, aber noch als solche erkennbar.
Doch Grundschullehrer stehen oft vor einem ganz anderen Problem: Für viele Kinder der Generation Smartphone sind Buchstaben nur tote Striche und Bögen auf dem Papier. Die Geschichte von Heidi, die das Herz ihres verschrobenen Großvaters erweicht, bleibt dahinter unsichtbar. Jede winzigste App, in der ein bisschen was aufploppt und jingelt, reizt mehr als ein Buch. So scheint man froh zu sein, wenn Kinder überhaupt einigermaßen schreiben und lesen können. Die geltenden Bildungsstandards von 2004 besagen lediglich, dass ein Schüler am Ende seiner Grundschulzeit eine „gut lesbare Handschrift flüssig schreiben“ können sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Schule also kurzweilig sein, damit auch das hibbeligste Kind möglichst lang den Hintern auf dem Stuhl behält. Schreibschrift tut das Gegenteil. Sie nimmt Schwung, macht einen Salto und verbeugt sich. Diese Kunst braucht Übung und erfordert Geduld.
Dabei ist Schreibschrift nicht gleich Schreibschrift. Man kann wählen zwischen Lateinischer Ausgangsschrift, Schulausgangsschrift und vereinfachter Ausgangschrift. Was sie eint: Ihre Buchstaben sind miteinander verbunden. So kann das kleine z in „Katze“ entweder in den Keller gehen, eine Schleife drehen, mit einer Kordel spielen und wieder zurückkehren. Oder aber es bleibt einfach nah beim kleinen t und schmiegt sich wohlig schnurrend eng an das benachbarte e an. Je nach Katerstimmung und je nach Grundschule, denn die Wahl der unterrichteten Schriftart ist Ländersache. Erkennbar ist dabei aber ein Trend zur Light Version der Schreibschrift. Bis sie am Ende ganz verschwunden ist. Bereits jetzt wird in mehreren Bundesländern eine sogenannte Grundschrift unterrichtet, die der Druckschrift ähnelt. Schnörkel sucht man da vergeblich. Möglichst einfach soll sie sein.
Aber ist einfach gleich gut? Sind es nicht gerade die gelegentlichen Richtungswechsel, die das Denkvermögen fördern? Mein Selbsttest beweist jedenfalls: Mit einer verbundenen Schrift kann man sogar schneller schreiben, als wenn man nach jedem Buchstaben absetzt. Empirisch belegt ist das aber bisher nicht, und so gibt es genug Zündstoff für Diskussionen. Eine aktuelle Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach ergab, dass rund zwei Drittel der 1400 Befragten es wichtig finden, wenn Kinder weiterhin Schreibschrift lernen. Die Unter-30-Jährigen, also die Eltern der Zukunft, sind allerdings geteilter Meinung: 43 Prozent plädieren für die Schreibschrift, 40 Prozent dagegen. Es hält sich also die Waage zwischen schnelllebig Denkenden und Verfechtern einer alten Schule.
Ganz andere Ausmaße nimmt die Diskussion beim Pisa-Sieger Finnland an: Schreibschrift war gestern. Stattdessen soll ab 2016 das eifrige Tippen auf der Tastatur trainiert werden. Doch bei aller Anpassung an unsere eilige Gesellschaft geht etwas verloren: das Persönliche. Getippt haben könnte diesen Artikel jeder. Ein handgeschriebener Brief mit gutem Füller und blauer Tinte ist viel unverwechselbarer. Und ist es nicht das, was wir immer sein wollen? Individuell und mit Wiedererkennungswert?
Auch ich habe meine Handschrift im Laufe der Jahre verändert. Schreibschriftschlenker paaren sich mit Druckbuchstaben. Zu verdanken hab ich diese Eigenkreation dem großen Fundus möglicher Schriftarten, aus dem ich schöpfen kann. Das Leben ist nicht immer nur Arial Black und Times New Roman. Die Mischung macht’s. Und vielleicht leih ich mir sogar mal ein paar Buchstaben Sütterlin bei Oma. Die haben so schöne Schnörkel.
Worte: Hanna Buiting | zuerst veröffentlicht am 20.03.2015 in der Sächsischen Zeitung (Dresden)
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