Menschworte

Vater der vergessenen Kinder

17. April 2016

Vor zwanzig Jahren gründete Bernd Siggelkow in Berlin-Hellersdorf die christliche Sozialeinrichtung „Die Arche“ und damit einen Zufluchtsort für Kinder, denen es an vielem fehlt. Sein Engagement scheint unermüdlich. Dabei hatte er es nicht immer leicht.

Als gegen 13 Uhr die ersten Kinder aus der Schule in die Arche kommen, wird Bernd Siggelkows Blick weicher, er lacht mehr. Seine manchmal etwas kühle Art, die an seine Hamburger Herkunft erinnert, weicht einer großen Herzlichkeit. Die Kinder laufen auf ihn zu. „Bernd!“, rufen sie und schmiegen sich kurz an seinen grauen Norwegerpullover und in seine Arme. Manche nennen ihn „Papa“.

Selbst durchlitten

Bernd Siggelkow gibt den Arche-Kindern, was er selbst als Kind oft schmerzlich vermisst hat: Liebe und Geborgenheit. Wenn der 51-Jährige heute von seiner Kindheit erzählt, tut er das in wenigen Sätzen. Ohne Zögern nennt er Verlust, Geldsorgen und Einsamkeit. Er hat das gelernt. Journalisten stellen ihm immer wieder diese Frage: „Wieso engagieren Sie sich so stark für benachteiligte Kinder?“ Seine Antwort ist eindeutig: Er kann sich so gut in die Kinder hineinversetzen, weil er ihre Geschichten kennt, sie selbst erlebt und durchlitten hat.

Denn in Bernd Siggelkows Lebenslauf gibt es eine Lücke: Als er sechs Jahre alt war, stand plötzlich seine Mutter mit gepackten Koffern vor ihm und sagt: „Ich verlasse euch. Ich gehe weg.“ Ihre Worte hat Siggelkow nie vergessen. „Von diesem Tag an gab es bei uns zu Hause keine Liebe mehr, keine Familie. Auf einmal ging es um unsere Existenz. Mein Vater war hochverschuldet, meine Großmutter, die für mich die wichtigste Bezugsperson war, wurde über Jahre vom Krebs zerfressen und starb früh.“

Es war ein schwieriger Start ins Leben, damals in den 60er-Jahren in Hamburg auf St. Pauli. Doch Bernd Siggelkow hat sich davon nicht unterkriegen lassen. Sein eigener Verlust ist ihm zum Antrieb geworden: Heute widmet er sich ganz den „vergessenen Kindern“, wie er sie nennt. Er fühlt sich verantwortlich. Weihnachten besucht er daher fast jedes Arche-Kind. Eines von ihnen, Michelle, und ihre elf Geschwister werden von ihm mit Lebensmitteln versorgt. Das dreizehnte Kind ist unterwegs, der Familie fehlt es an Geld und manchmal noch an viel mehr. Siggelkow macht so etwas freiwillig, trennt Privates nicht von Beruflichem. Seine Stärken: Nicht lange zu überlegen, Bürokratien zu überwinden, dem Herzen zu folgen, zu handeln. Weil er weiß, wie wichtig Zuflucht für Kinder in Not ist. Sie brauchen Erwachsene, die sich kümmern und verlässlich sind.

Die entscheidende Frage

Er selbst fand solche Erwachsene in der Hamburger Heilsarmee, einer christlichen Freikirche mit ausgeprägter sozialer Tätigkeit. 15 Jahre alt war er damals und eigentlich nur auf der Suche nach kostenlosem Musikunterricht. Religion hatte bis dato in seinem Leben keine Rolle gespielt. Doch die Heilsarmee wurde für ihn zu einem Wendepunkt: „Ein Jugendpastor stellte mir eine Frage, die mein Leben veränderte“, erinnert Bernd Siggelkow sich: „Weißt du, dass es jemanden gibt, der dich liebt?“ Der Heilsarmee-Pastor meinte Gott damit. Bernd Siggelkow aber wurde durch diese Frage erstmals klar, was ihm in seinem 15-jährigen Leben bisher gefehlt hatte: Liebe. „Ohne zu wissen, was auf mich zukommt, habe ich mich damals entschieden, Christ zu werden“, sagt er. Damit ganz eng verbunden war sein Entschluss, etwas für Kinder zu tun, damit diese nicht so aufwachsen müssten wie er.

In der Heilsarmee durfte er sich ausprobieren. „Ich habe Kinderprogramm angeboten. Eigentlich tue ich das bis heute“, sagt er schmunzelnd. Die Arbeit mit Kindern ist der rote Faden seines Lebens. Auch später, als er sich entschied, Pastor zu werden und in verschiedenen Gemeinden arbeitete, waren es immer die Kinder, die ihm besonders am Herzen lagen. Er sagt das nicht ohne Vorsicht. In heutiger Zeit kommt man schnell in Verruf, wenn man von seiner „Liebe zu Kindern“ spricht. Besonders als Mann Anfang fünfzig. Doch bei Bernd Siggelkow ist es eine ganz väterliche Liebe, die keinen Unterschied macht und bedingungslos ist.

Begegnung mitten im Leben

Der Arche-Gründer kennt alle Namen der Kinder, alle ihre Geschichten. Lisa und Katharina neckt er kurz, Michelle fragt er nach der Englischarbeit, Pascal erhält Bewunderung für sein Plastikauto aus dem Überraschungs-Ei. Aus dem alten Schulgebäude, in dem die Arche in Berlin-Hellersdorf ihr Quartier hat, wird an jedem Nachmittag ein Familienhaus. Die Kinder werden erwartet, sind willkommen und geschätzt. Für viele von ihnen ist die Arche das sichere Zuhause, das ihnen sonst fehlt. Und Bernd ist ihr Papa.

„Das ist der Unterschied zwischen der Arche und anderen Sozialeinrichtungen“, sagt Siggelkow. „Wir geben den Kindern Liebe und Beziehung.“ Doch das ist gleichzeitig auch das, was der Arche und ihrem Gründer besonders in der Anfangszeit viel Kritik eingebracht hat: Die Waage zu halten zwischen professioneller Distanz und empathischer Nähe, die die Kinder doch so sehr brauchen und einfordern, ist eine tägliche Herausforderung. Bernd Siggelkow und sein Team haben gelernt, diese Balance zu halten. Jedes Kind erhält eine Umarmung, wenn es sie möchte, aber es wird nicht ausgiebig gekuschelt. Auf dem Schoß zu sitzen, bedeutet auf den Knien zu sitzen. Ein körperlicher Abstand bleibt, nicht aber ein Abstand des Herzens.

„Den Kindern Nähe zu geben – für mich ist das als Christ ganz normal“, sagt Bernd Siggelkow. So versteht er die biblische Botschaft, das Vorbild Jesu: Liebt einander. Sein Leben als Christ ist für ihn untrennbar verbunden mit seinem Leben als Arche-Gründer, Mann der Öffentlichkeit, Familienvater. Er geht nicht jeden Sonntag in die Kirche. Sein Gottes-Dienst findet täglich statt: Beim gemeinsamen Mittagessen mit den Arche-Kindern, beim Toben mit seinem Hund Anouk, im Austausch mit seiner Frau Karin.

Sein eigenes Ding

Bernd Siggelkow denkt groß, hat Pläne, fühlt sich verantwortlich. Seine gottgegebene Aufgabe sei es, die Not zu sehen und die Not zu lindern, wo immer er eben kann, ist er überzeugt. Er ist da, wo er gebraucht wird. Und doch auch wieder nicht. Denn viel zu viele Kinder in Deutschland bräuchten einen Menschen wie ihn an ihrer Seite. Das weiß er, und das macht ihn oft traurig. Schon früh, vielleicht viel früher als andere, hat er erkannt, dass es in Deutschland Kinderarmut gibt: finanzieller und seelischer Natur.

Genau davor floh Bernd Siggelkow schließlich selbst mit 16 Jahren. Er zog aus, kehrte seinem schwierigen Vater den Rücken, suchte seinen eigenen Weg. Seine guten Leistungen in der Schule verhalfen ihm zu einer Lehrstelle als Auszubildender in einem Baumarkt. Bernd Siggelkow ist ein Mann, der anpackt und der den Kontakt zu Menschen sucht. Beides fand er dort. Doch sein Weg führte ihn weiter in die Theologie. Und wieder war es die Heilsarmee, die ihn darin bestärkte. Siggelkow wollte herausfinden, was es bedeutet, Christ zu sein. Theoretisch, aber vor allem ganz praktisch. Er organisierte Kinderpartys und Straßengottesdienste, begegnete den Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation.

Bis heute ist das so. Doch nicht überall kommt er damit gut an. Weil er kritisiert, einen eigenen Standpunkt vertritt und auch Konflikte nicht scheut. Wenn er zu Gast in Gemeinden ist, wird er oft gefragt, wie es ihm gelingt, Kindern seinen Glauben zu vermitteln. Seine Antwort ist immer die gleiche: „Ich orientiere mich am Kind und an seiner Lebenswirklichkeit.“ Er folgt keinen fertigen Programmen, die ihm andere vorgeben, sieht sich nicht als Missionar. Er fragt lieber: „Welchen angstmachenden ‚Riesen‘ sind die Kinder in ihrem Leben ausgesetzt?“ Und vielleicht kommt er dann irgendwann auf David und Goliath zu sprechen. Wenn es eben passt. Nicht, weil es erwartet wird von ihm, dem Gründer einer Institution, die das Christentum im Namen trägt. Er macht sein eigenes Ding. Auch, wenn er dabei manchmal an seine Grenzen stößt.

Was Halt gibt

„Ich könnte diese Aufgabe nicht tun, wenn ich kein Fundament hätte“, sagt er und meint damit seinen Glauben. „Ich kotz‘ mich manchmal bei Gott aus, aber nie habe ich einen Zweifel an seiner Existenz“, betont er. Nie. Dabei ist er ständig mit Leidsituationen und Herausforderungen konfrontiert. Doch Bernd Siggelkow versteht sich als Kämpfer. Vielleicht ist das der andere rote Faden seines Lebens: Kampf. Als Kind gegen die Armut, als junger Erwachsener gegen die Erwartungen anderer, als Arche-Gründer gegen steinerne Bürokratien, „Lügen der Politik und Drohungen“, wie er sagt. Letztere habe er besonders in Berlin-Hellersdorf oft erfahren. Vonseiten der Linken, denen es ein Dorn im Auge zu sein schien, einen engagierten Christen aus Westdeutschland zu erleben, der Kinderarmut aufdeckt, anprangert und anfängt, sie zu bekämpfen. Doch Siggelkow hat sich nicht einschüchtern lassen. Für die Kinder und mit Gottes Hilfe kämpft er weiter.

Und dann ist da ja immer auch noch Karin. Liebe seines Lebens. Vertraute, Mitkämpferin, Mutter seiner sechs Kinder. Kennengelernt haben die beiden sich mit Anfang 20 durch das gemeinsame Engagement bei der Heilsarmee. Bernd Siggelkow war sofort hin und weg von dieser Frau, die sich ebenfalls ganz dem Leben mit und für Kinder verschrieben hat. Ihre gemeinsame Mission und ihre Liebe scheint ein Wechselspiel zu sein, das sie bis heute trägt.

Dorthin, wo’s weh tut

Dabei verlief ihr Weg nicht immer geradlinig. In verschiedenen Gemeinden hätten sie bleiben können, bauten dort Kinder- und Jugendarbeit auf, hätten sich mit ihrer Familie ein bequemes Leben einrichten können. Im Kleinstadtidyll Lörrach etwa, wo sie gemeinsam mit ihren Kindern einige Jahre verbrachten. Doch ihre Berufung zog sie weiter. Dorthin, wo’s richtig weh tut, wo die Not so groß scheint, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. So war Bernd Siggelkows erster Eindruck von Berlin. Er und seine Frau haben mit der Entscheidung gerungen, in den Brennpunkt zu ziehen – und haben es 1992 schließlich doch getan. Weil sie sich wie durch eine göttliche Stimme geleitet fühlten.

Bereut haben sie es nicht. Jedenfalls nicht grundsätzlich: „Es gab schon Momente, in denen ich Gott gefragt habe, ob das nun der Preis für meine Entscheidung ist“, erzählt Siggelkow. Zum Beispiel als sein eigener 17-jähriger Sohn mit Alkohol abgefüllt auf der Treppe der Arche lag.

Seine Kinder waren Zeit ihres Lebens mit harten Schicksalen konfrontiert. Das Leid wohnte nur eine Haustür weiter. „Das hat sie natürlich geprägt, aber auch stark gemacht“, sagt Siggelkow und in seiner Stimme schwingt eine Spur Stolz mit. Heute arbeiten drei seiner sechs Kinder ebenfalls in der Arche. Aus eigener Initiative heraus. Vielleicht, weil ihnen ohne die Arche etwas fehlen würde. Und weil ihnen ihr Vater vermutlich ein Vorbild ist. Natürlich gab es auch Eifersucht gegenüber den Arche-Kindern. Seine Tochter Judith, die heute als Sozialpädagogin arbeitet, sagt dazu: „Eine Woche lang war ich eifersüchtig. Als Teenager. Heute möchte ich für Kinder das sein, was mein Vater für so viele Kinder ist.“ Einer, der sich den Vergessenen annimmt, sie liebt und schützt, als wären es seine eigenen Kinder.

Leben, nicht Arbeit

Bernd Siggelkow setzt sein Engagement nicht mit Arbeit gleich. Die Arche ist einfach sein Leben. Einen Ausgleich brauche er deswegen eigentlich nicht, sagt er. So hat er selbst bei seinen Hobbys die Kinder im Blick: Seit einigen Monaten ist Anouk neues Familienmitglied. Er soll zum Therapiehund ausgebildet und in der Arche eingesetzt werden. Und auch das Quadfahren, das Bernd Siggelkow vor einigen Jahren für sich entdeckt hat, ist inzwischen zum Highlight für die Arche-Kinder geworden.

Fragt man den 51-jährigen nach Zukunftsträumen, muss er nicht lang überlegen. Sein größter Traum ist es, die Arche irgendwann schließen zu können, weil sie nicht mehr gebraucht wird. Doch ihm ist klar, dass sich das wohl nie erfüllen wird. „Die Zahl der Kinder, die unter emotionaler Not leiden, wird immer größer.“ Traurig macht ihn das, wütend, aber nicht resigniert.

Im Gegenteil: Bernd Siggelkow denkt über neue Hilfsangebote nach. Einen Bauernhof im Berliner Umland würde er gern aufbauen, um noch ganzheitlicher für Kinder da zu sein. „Menschen, die diese Idee an meiner Stelle verwirklichen wollen, haben sich schon einige gemeldet“, sagt er. Doch Siggelkow hängt an seinem Traum und daran, ihn eines Tages von Grund auf selbst in die Tat umzusetzen. Vor Ort zu sein. Leben und Arbeit noch mehr miteinander zu verbinden. Als Kämpfer, als Macher, als einer, bei dem kein Ende in Sicht scheint und schon gar kein Ruhestand. „Über Ruhestand nachzudenken, würde bedeuten, über das Alter nachzudenken. Das tue ich nicht. Ich fühle mich grundsätzlich so alt, wie die Kinder bei uns in der Arche“, sagt Bernd Siggelkow und holt Anouk aus dem Auto. Katharina, Lisa und Michelle wollen mit dem Hund spielen. Und mit Bernd, ihrem Papa.

Worte: Hanna Buiting |zuerst veröffentlicht in der Februarausgabe des LebensLauf-Magazins (SCM Bundes-Verlag)

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