Menschworte

Vom Geschmack des Lebens

21. Mai 2014

Sie hatten an alles gedacht.
Für jedes vergangene Lebensjahrzent gab es einen Gaumenschmaus. So hatte Hilde es sich gewünscht: Ein Abendessen mit ihren Liebsten.

Sie kostete alles, ließ sich die Jahre auf der Zunge zergehen. Süße und bittere Momente. Beide hatte es gegeben.

Als erstes probierte sie den Grießbrei. Warm und zart, mit einer Spur Zimt. Er schmeckte nach den ersten Jahren. Familienglück. Mit noch feuchten Haaren vom Samstagsbad hatten sie beieinander gesessen und die süße Speise genossen. „Das könnt ihr euch nicht vorstellen, Kinder. 10 Leute waren wir bei Tisch. Und für alle gab es Grießbrei. Schön war das. Ein bisschen wie heute Abend“, sagte Hilde und während sie sprach, legte sich ein besonderer Glanz in ihre Augen, der sie einen Moment lang wieder zu einer Siebenjährigen machte. Mit geflochtenen Zöpfen und Zahnlücken auf einer Holzbank zwischen ihren Brüdern.

Als nächstes war die Hühnersuppe an der Reihe. Steckrüben hatte sie keine gewollt. Weil die so nach Hunger schmeckten. Dann lieber Hühnersuppe, in der man das Huhn etwas suchen musste. Mit dem salzigen Geschmack auf den Lippen, sah sie sich im Bett liegen. In weiche Kissen gebettet und mit fieberroten Wangen. Löffel um Löffel hatte sie die heiße Suppe geschlürft, während die anderen Kinder in der Schule saßen. Eigentlich war das Kranksein gar nicht so schlimm gewesen, erinnerte sie sich. Nur wenn es keine Hühnersuppe gegeben hatte- wenn es eigentlich nichts gegeben hatte außer einem vor Angst trockenen Mund.

Aber dann war alles wieder besser geworden. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als sie mit Messer und Gabel bedächtig die Kohlroulade zerteilte. Mit brauner Soße und selbstgemachten Kartoffelknödeln, die etwas klebrig am Gaumen pappen blieben und nach Sonntagen mit der Familie schmeckten. Einer war ihr ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Als sie Friedrich mit nach Hause gebracht hatte. Ihren Friedrich. Zum ersten Mal. Unter der weißen Tischdecke hatten sich ihre Hände zaghaft berührt. Aber ganz fest hatte Friedrich ihre Hand gehalten, als er ihren Vater mit entschlossenem Blick fragte, ob er seine einzige Tochter zur Frau nehmen dürfe. Damals hatte es Kohlrouladen gegeben und Vaters Ja war weich, wie Knödelteig gewesen.

Der Geschmack von Käse, Toast und einer Ananasscheibe aus der Dose erinnerte sie an Partys mit Freunden in der eigenen Wohnung. Unbeschwert waren sie damals gewesen. Kurz bevor die Kinder kamen und sie noch geraucht hatte. Eine Zigarette nach der anderen. Einfach weil es ihr so gut schmeckte.

„Philipp, hast Du eine Zigarette für mich?“, fragte Hilde ihren ältesten Enkel jetzt plötzlich. Philipp blickte sie einen Augenblick überrascht an. Nie hatte er seine Großmutter rauchen gesehen. Aber auch noch nie hatte er ihr einen Wunsch abschlagen können. Und so nahm sie- zwischen zwei Bissen Toast Hawaii- voll Genuss einen langen Zug. Nicht mal husten musste sie. Manches verlernte man eben einfach nicht.

Nach der Zigarette bekam sie ungeheure Lust auf etwas Süßes. Der Schokomantel knackte verheißungsvoll und dann hatte sie auch schon die Süße der Banane und die Erinnerung an Kinderfeste im Mund. Geburtstage mit Schokobananen, an denen sie voll Elan in einem engen Kleid auf dem Boden rumgerutscht war, um ihre Kinder beim Topfschlagen anzufeuern. Während in ihrem Bauch schon das nächste Leben heranwuchs, obwohl sie doch eigentlich gar kein viertes Kind gewollt hatte. Hilde blickte zu ihrer jüngsten Tochter auf der anderen Seite des Tisches. Ihr Nesthäkchen, das schon so lange erwachsen und selbst Mutter war. Einen Moment glitzerte es tränenfeucht in Hildes Augen. Wie hätte sie jemals auf ihr so geliebtes Kind verzichten können?

Der Kartoffelsalat schmeckte wie damals. Die selbstgemachte Majonäse und die feinen Gewürzgurkenscheiben, waren ihr Geheimtipp gewesen. Nach jedem Besuch ihrer erwachsenen Kinder hatte sie jedem von ihnen eine Dose davon eingepackt. Weil alle ihren Kartoffelsalat so gerne mochten. Nur sie selbst hatte eine Zeit lang nicht viel davon essen können. Weil ihr Bauch, ihre Beine, ihr Po immer weicher und größer geworden waren. Mit jedem Jahr ein bisschen mehr. „Wie eine gemütliche Omi siehst du aus“, hatte ihr Sohn ihr damals einmal gesagt. Gut hatte er es gemeint und nicht geahnt, wie sehr er sie mit seinem vermeintlichen Kompliment verletzt hatte. Nicht mal Friedrich hatte sie mehr in Unterwäsche sehen sollen. Zu sehr hatte sie sich für ihre Pfunde geschämt. Hilde musste lächeln, als sie nun ihren dünnen Körper mit der durchsichtigen Haut betrachtete. Wie gut mir jetzt ein bisschen Speck tun würde, dachte sie und steckte sich eine Gabel voll köstlichem Salat in den Mund.

Eines ihrer heutigen Leibgerichte hatte sie erst spät kennengelernt. Beim Richtfest ihres Zweitgeborenen. Ein Haus, ein Baum, ein Kind. Alles hatte er bekommen. Noch dazu eine wundervolle Frau, Hildes heimliche Lieblingsschwiegertochter. Das Haus im Grünen war ihr gemeinsamer Traum gewesen. Während auf dem Dach die bunten Schleifenbänder am Richtkranz im Wind flatterten, hatte sie sich neben Friedrich auf eine der Bierbänke gesetzt und den feurigen Geschmack von Chili con Carne in einer weißen Plastikschale kennengelernt. „Ich glaube, wir werden alt“, hatte sie ihrem Liebsten damals zugeraunt und war dabei nicht traurig gewesen. Auch ihre Träume hatten sich erfüllt: Ein Haus, ein Baum, vier Kinder. Gemeinsam mit einem Mann, den sie liebte und der sie liebte. Da war kein Grund zum Traurigsein.

Erst später hatte sich eine Traurigkeit in ihr Herz geschlichen. Als Philipp, ihr erstes Enkelkind, Abitur gemacht hatte und Friedrich nicht mehr bei ihnen war. Bitterschokolade war Hildes sanfter Trost gewesen. Einen Riegel brach sie sich nun ab, kostete Süße und Herbe zugleich. So war ihr Leben seitdem. Süß und herb. Die Liebe ihrer Kinder und Enkel hatte ihr süße Momente geschenkt. Auch ohne Friedrich. Welch ein großartiges Fest sie zu Hildes 80.Geburtstag veranstaltet hatten. Doch herb und etwas bitter waren die Abende, an denen sie allein im Wohnzimmer neben der alten Standuhr saß und der Platz neben ihr auf dem Sofa frei blieb. Seit Friedrich fort war, fühlte sich das Alter schwerer an. Ihr Rücken tat oft weh, auch die Füße schmerzten und es hatte sie nicht überrascht, als Dr. Tiedtke ihr mit ruhiger Stimme erklärt hatte, dass ein Tumor in ihrem Kopf wuchs und dass es wenig Hoffnung auf Heilung gab. Ein Stück Schokolade, süß und herb, hatte sie sich in den Mund gesteckt und einen kurzen Augenblick an Gott gedacht. Ob er sie nun zu Friedrich holen würde?

Von den vielen Genüssen und Erinnerungen war sie müde geworden. Die Gespräche ihrer Lieben drangen längst nicht mehr alle an ihr Ohr. Seit Monaten hatte sie nicht mehr so viel essen können. Seit Monaten war sie nicht mehr so lange wach gewesen. Zwei Stunden waren seit ihrem letzten Schläfchen vergangen.

Sie blickte sich um, sah in die Gesichter ihrer Lebensbegleiter und Weggefährten. Dann lehnte sie sich erschöpft in ihre Kissen zurück.

Alle waren gekommen. Sie hatten an alles gedacht. An jedes Gericht auf Hildes Wunschliste.

Ihr Bett hatten sie so gestellt, dass sie alle sehen konnte. Hilde am Kopfende einer langen Tafel. Fort waren Schläuche und Stecker. Der nette Pfleger hatte das ganze Equipment aus dem Zimmer geschafft. Sie brauchte es ohnehin nicht mehr.

Auch das hatte sich Hilde gewünscht: Sie wollte einen Raum, der nicht an ein Krankenhaus erinnerte. Ihre Gäste sollten sich wohlfühlen, dafür hatte Hilde schließlich auch ihr Leben lang gesorgt.

Bis ganz zum Schluss. Bis alles gut war. Bis jetzt.

Und dann schlief Hilde ein. Mit dem Geschmack des Lebens noch auf den Lippen.

 


Worte: Hanna Buiting | Bild: Charlotte Viefhaus – www.charlottes-augenblicksammlung.blogspot.de

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